Vorgeschichte

Vorgeschichte

Dies ist meine Geschichte. Der Text stammt von der Abschlussarbeit meiner Schwester Salome. Ich habe ihn überarbeitet und umgeschrieben, so dass die Geschichte nun aus meiner Sicht erzählt. Es war emotional sehr anspruchsvoll. Dennoch hoffe ich, dass es für alle Leser verständlich geschrieben ist. Die Infoboxen am Rande des Textes dienen zum Verständnis.

Alles begann am 07.April 2018. Es war ein normaler Samstag, ein sonnig warmer und wunderschöner Frühlingstag. Nach dem ich Zeit gemeinsam mit meinem Verein verbracht habe, entschied ich mich mit zwei meiner Freunde eine Rollertour zu starten. Wir wählten eine Tour rund um die Rigi. Wir genossen die wunderbare Frühlingsluft entlang der Straße vom Vierwaldstättersee. Alles war so wunderbar und wir hatten eine Menge Spaß. Nach einer ausgiebigen Pause in Brunnen gings weiter. Ich fuhr ab dem letzten Halt zuvorderst. In einer Kurve, kurz vor Vitznau, geriet mein Roller außer Kontrolle und bevor ich reagieren konnte, lag ich auch schon einige Meter hinter der Leitplanke. Es eilten schnell Helfer zu mir, darunter auch eine Fachfrau Gesundheit welche hinter uns unterwegs war. Diese alarmierte die Ambulanz und alle anderen sorgten sich so gut wie möglich um mich. In der Zeit, in der wir auf professionelle Hilfe warteten, hat einer meiner Freunde bereits meine Eltern informiert, welche sich sofort auf den Weg zur Unfallstelle begaben. Nach einigen Minuten traf die Polizei ein und kurz danach auch der Rettungswagen. Im ersten Augenblick sah es so aus, als ob nur mein Knie zerschlagen wäre. Doch als mich die Sanitäter abtasteten, merkten sie, dass eine meiner Körperhälften stark verspannt ist. Sie vermuteten einen Milzriss und boten die Rega auf. Diese holte mich dann auch am Schiffshafen in Gersau ab und flogen mich schnellstmöglich ins Kantonsspital Luzern. Bei der Ankunft wurde direkt ein CT gemacht. Zu meinem Glück blieb soweit aber alles Heil, außer das Knie. In der Notaufnahme stießen dann auch meine Eltern zu mir, erleichtert, weil ja nichts Größeres passiert sei. Man informierte uns dann noch über eine unbekannte Raumforderung zwischen Herz und Lunge, welche in den kommenden Tagen abgeklärt werden muss. Wir dachten uns nichts Böses dabei, auch die Ärzte nicht. „Wahrscheinlich nimmt einfach die Speiseröhre ein wenig mehr Platz ein als sie sollte“, so die Ärzte „und da sie sowieso ein paar Tage im Krankenhaus liegen bleiben, werden wir sie weiter untersuchen und alles klären!“.

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CT = Computertomographie
Eine Art Schicht-Bildgebung. Dabei wird der Körper Schicht für Schicht geröntgt. Es entsteht ein 3D Bild des Körpers samt Organen. In der Röhre können innere Verletzungen und Schädigungen festgestellt werden, welche man von aussen nicht erkennen kann.

Thorax = Brustkorb

In den kommenden Tagen wurden diverse Untersuchungen gemacht. Dazu gehörten ein Lungenfunktionstest, eine Herzechografie und ein Röntgen. Als meine Mutter und meine Schwester am Donnerstag im Zimmer bereitstanden, um mich abzuholen, betrat der Thorax-Chirurg Herr Dr. Leiser mein Zimmer. Er war für die Untersuchungen und das Auswerten dessen zuständig. Er sagte, dass meine Organe in Ordnung seien, jedoch auch etwas sei, was man noch genauer untersuchen müsse… Dann druckste er ein wenig rum und sagte dann: «Mier hend en Tumor bim Jan gfunde!» Keiner von uns realisierte, was uns der Chirurg da erzählte. Erst als wir zuhause waren, kam es an.

In der Woche darauf, am 19.April, hatte ich dann meinen ersten Tumor-Untersuch, das PET CT. Nach dem Untersuch musste ich viel trinken, um die Radioaktivität im Körper schnell auszuschwemmen. Sechs Tage später fand dann die Biopsie statt. Da sich der Tumor an einer heiklen Stelle befand, standen einige Fachärzte zur Seite um im Notfall einzugreifen. Am Freitag 27.April rief Herr Dr. Leiser meine Mutter an und erzählte ihr, was man beim PET CT und vor allem bei der Biopsie herausfand. Nun bekam der Tumor einen Namen; Lymphom Hodgkin. Lymphdrüsen-Krebs. Bösartig, nicht operierbar uns somit nur medikamentös therapierbar. Oft sind Patienten mit dieser Krebsart im Alter von mir. Viel zu jung, um schon ums Leben kämpfen zu müssen. Doch, eine einigermaßen positive Nachricht gab es trotzdem, die meisten aller Patienten besiegen den Krebs nach wenigen Therapien und werden geheilt. Es waren viele Informationen auf einmal, so dass an diesem Abend noch viele Tränen bei uns allen liefen.

Trotz den Umständen feierte ich einen Tag später, am 28.April 2018, meinen 18. Geburtstag nach. Alle meine Freunde kamen, um mit mir zu feiern. Selten hatte ich seit Beginn der Ausbildung alle meine wichtigsten Leute zusammen und so entschied ich mich an diesem Abend, allen meine Krebserkrankung mitzuteilen. Es fühlte sich richtig an, niemanden zu benachteiligen und es zu erzählen bevor es einer über sieben Ecken erfuhr. Die Stimmung war dann erst ein wenig bedrückter, doch meinen Geburtstag feierten wir trotzdem oder erst recht noch viel ausgiebiger, nach dem Motto; wir lassen uns nichts nehmen.

Am 02.Mai betrat ich mit meinen Eltern zum ersten Mal die Onkologie. Nur schon den Liftknopf 4 zu drücken, löste bei uns ein sehr mulmiges Gefühl aus. Auf der Sitzbank im Flur saß der Nachbar meines Patenonkels. Er war erneut an Krebs erkrankt und wartete geduldig auf seine Therapie. Er umarmte meine Eltern und mich fest, sprach mir viel Mut zu und sagte, dass es sich immer lohne zu kämpfen. Seine Worte hallten lange nach. Leider verlor Mario seinen Kampf gegen den Krebs am 05.März 2019.

Nach einigen Minuten des Wartens kam dann eine sehr sympathische Onkologin, welche uns von nun an begleitete. Meine Eltern sagen immer, dass sie die weltbeste Ärztin sei und sie ihr absolut vertrauen. Frau Dr. Schmid hatte viel Geduld und erklärte alles sehr genau. Es gab noch einiges, was ich mir überlegen musste. Sorgen, welche für einen 18-jährigen noch nicht relevant sein sollten. Beispielsweise, ob ich Spermien einfrieren möchte, für einen möglicherweise später kommenden Kinderwunsch. Es ist leider bekannt, dass eine Chemotherapie zur Unfruchtbarkeit führen kann und so entschied ich mich für diesen Termin einige Tage später in der Frauenklink.

Eines Tages war Lisa bei uns. Sie brachte viele farbige Glasperlen mit. Dann erklärte sie mir, dass diese auf eine Schnur aufgereiht werden und dass diese aufgefädelten Mutperlen ein Tagebuch über meine Krankheitsgeschichte ergeben. Meine Mutter kannte Lisa nur durch eine Facebook-gruppe. Darin fragte sie mal, ob jemand die Kunst des Glasperlendrehens beherrsche. Lisa schrieb ihr, dass sie das sehr gerne für mich machen würde. Die Perlenkette begleitet mich an jeden Termin und hängt immer am Infusionsständer. Diese ist inzwischen unheimlich lang. Sie hängt bei uns im Wohnzimmer und erinnert an diese schwierige Zeit.

Am Dienstag, 08.Mai 2018 war es dann soweit. Die erste Chemotherapie begann und somit mein großer Kampf. Die erste Therapie ging relativ gut. Die Müdigkeit und Übelkeit nahmen ihren Platz ein. Wenige Tage später hatten wir alle ein Fotoshooting, welches meine Mutter über “Herzensbilder” organisierte.

«Herzensbilder schenkt professionelle Familienfotografien. Dort, wo ein Kind oder Elternteil schwer krank ist oder wo ein Kind viel zu früh oder still geboren wird. Bilder voller Liebe und Zusammensein, voller Mut und Tapferkeit, voller Hoffnung und Kraft. Weil Bilder irgendwann so wichtig sein können, um miteinander auf eine wahnsinnige Zeit zurück zu blicken, die man gemeinsam überstanden hat.»

Es war ein wundervoller Tag mit dem so herzlichen Team. Mualla, welche uns schminkte. Petra, welche uns frisierte und stylte. Sowie Sandra, die uns fotografierte und uns so wunderschön in Szene setzte. Wir lachten viel und ein wenig konnten wir den Sturm vergessen, welcher gerade tobte. Wenn man jedoch heute die Bilder genau anschaut, sieht man die Erschöpfung und die schlaflosen Nächte in unseren Augen.

Weitere Chemotherapien standen an und ich bemühte mich, mein Leben möglichst normal weiterzuführen. Ich war im 2.Lehrjahr als Koch. Statt wöchentlicher Berufsschule hatte ich Blockschule. Im Frühling waren das vier Wochen Internatsschule in Weggis. Der Ablauf war dann so, dass ich Chemotherapie hatte, welche ein paar Stunden dauerte, danach ging`s ins Parkhaus und meine Mutter fuhr mich direkt in die Schule. Mit Medikamenten gegen die Übelkeit funktionierte dies ganz gut. Dank meinem Freund und Zimmergenossen David hatte ich eine Person, welche mir stets unter die Arme griff, wenn ich etwas brauchte. Er unterstützte mich oft beim Lernen. Er ging mit mir joggen, wenn mir danach war, obwohl David wirklich kein Joggingliebhaber ist. Wir büffelten gemeinsam Schulstoff oder David erzählte von den Betriebsbesichtigungen, an welchen ich nicht teilnehmen konnte. So entgingen uns beiden einige Ausgänge in Weggis. Ich verpasste insgesamt 29 Lektionen und schloss diesen Schulblock dennoch mit einer Note von 5,5 ab. Viel davon verdanke ich David und meinen flexiblen Eltern.

Bestrahlung
Bei einer Bestrahlung wird der Tumor gezielt mit einem Laser beschossen. Dabei werden die Zellen und deren Erbsubstanz zerstört. Die angewendete Intensität liegt bei 8 -80 Gray (Gy), je nach Notwendigkeit. Je nach Stelle des Tumors bringt die Bestrahlung viele Risiken und Folgeschäden, weswegen sie bei jungen Patienten selten angewendet wird.

Anfangs Juli wurde ein weiteres PET CT gemacht. Man wollte wissen, wie weit der Tumor zerstört war und ob es noch weitere Therapien braucht. Vom Tumor war nur noch totes Gewebe vorhanden und so wurden die zwei weiteren angedachten Chemotherapien abgesagt. Lange hatte man diskutiert ob eine Bestrahlung Sinn machen würde, damit man auch das restliche Gewebe los wird. Um ganz sicher zu sein, dass man wirklich alles erwischt hat, entschied man sich für zehn Tage zu bestrahlen. Ende Juli musste ich mir eine Bestrahlungsmaske anfertigen lassen. Diese wurde exakt an meinen Oberkörper angepasst. Nach der Anfertigung wurde der Bestrahlungsbereich abgemessen, so dass man möglichst wenige Organe bei der Bestrahlung trifft und beschädigt. Im August ging es dann los. Täglich musste ich für ungefähr zehn Minuten ruhig liegen damit mit 20 Gy bestrahlt werden konnte. Nach der Bestrahlung galt der Tumor als komplett vernichtet.

Es folgten Nachuntersuchungen. Im November gab es nebst der Blutkontrolle noch ein CT und ein Ultraschall. Im Februar 19 war eine normale Blutkontrolle und im Mai 19 gab es wiederum wieder eine grössere Kontrolle mit einem CT und einem Ultraschall. Bei allen Nachuntersuchungen war immer alles gut. Frau Dr. Schmid war sehr zufrieden und beschloss, auf halbjährliche Kontrollen auszuweiten. Zu diesem Zeitpunkt steckte ich gerade in meinen Abschlussprüfungen und beendete meine Ausbildung erfolgreich.

Ende August 19 bekam ich einen starken Juckreiz. Zuerst an meinen Händen und an den Füssen. Eine Allergie gegen ein Waschmittel schloss ich rasch aus, da ich dieses nie wechselte. Auch eine Nahrungsmittelunverträglichkeit kam für mich als Koch nicht in Frage. Als dann plötzlich der ganze Körper ohne Unterbruch juckte, rief ich die Onkologie in Luzern an. Frau Dr. Schmid war an diesem Tag nicht da und so wurde ich mit dem Dermatologen verbunden. Dieser verschrieb mir starke Tabletten und eine Lotion. Diese Kombi nutzte für zwei Tage sehr gut, dann fing das Ganze wieder an. Fünf Tage später, am Dienstag 03.September war Frau Dr. Schmid wieder auf Arbeit und sah die Notiz, dass ich mich wegen Juckreiz gemeldet hatte. Sie rief direkt an und sagte, dass sie mich sofort sehen möchte und das CT und den Ultraschall, welche im November geplant waren, durchführen will. Erst da kam uns wieder in den Sinn, dass Juckreiz oftmals eines der ersten Symptome bei Lymphdrüsen-Krebs ist. Das hatten wir schon einige Male gelesen und gehört. Weshalb dies in diesem Moment niemandem einfiel, wissen wir bis heute nicht. Geändert hätte es nichts. Ich machte noch am selben Tag einen Termin ab. Nach ein paar Abklärungen entschied Frau Dr. Schmid mit Herr Dr. Zander, dem leitenden Arzt und Lymphom Spezialist, dass ich ein PET CT machen muss.

Eine Woche später, am 10. September, fand dieses dann auch statt. Am Morgen war das PET/CT, welches sofort ausgewertet wurde. Am Mittag war die Tumorboard-Besprechung und danach fuhren meine Eltern mit mir wieder ins Luzerner Kantonsspital, um zu erfahren, was man beim PET CT entdeckt hatte. Bis zum Schluss hofften wir, dass alles nur ein Fehlalarm war. Frau Dr. Schmid kam, begrüßte uns drei und bat uns mitzukommen. Auf dem Weg hatte sie kein Wort gesprochen, was sehr unüblich für sie war. Im Zimmer angekommen sagte sie: «Es tued mer leid, aber ech ha kei gueti Nachrichte för Sie, de Tumor isch zrugg! Er isch a de gliiche Stell wie letscht Jahr, aber doppled so gross» Die ganze Woche hatten wir uns gefühlt tausend Mal die beiden möglichen Varianten durch den Kopf gehen lassen. Und dann war es wirklich so… die ganze «Vorbereitung» im Kopf nützte nichts, den Boden riss es mit einem Ruck unter den Füssen weg. Frau Dr. Schmid erklärte die weitere Vorgehensweise sehr genau, aber die Worte flitzten nur so durch die Köpfe, ohne dass wir etwas davon wirklich verstanden. Viele Tränen flossen auf der Onkologie aber auch am Abend im Kreis der Familie. Mein Götti kam ebenfalls an diesem Abend vorbei. Er ist ein guter Freund von meinem Vater und hat so, vor allem meinen Vater und mich, schon immer sehr gut unterstützt. Die riesengroße Angst vor dem kommenden Weg war wieder präsent. Am darauffolgenden Freitag bekam ich einen Termin für eine Biopsie, um sicher zu stellen, dass es sich wirklich um denselben Krebs handelt. Dies wurde dann bestätigt und so war klar, dass ich in Bern behandelt werden musste. Luzern bietet die benötigte Therapie leider nicht an. Eine Woche später folgte die Vorbesprechung bei einem Onkologen in Bern, Herrn Professor Pabst.

Wenige Tage später folgte dann auch mein erster Chemotherapie-Block. Nach der Anreise waren wir leicht überfordert mit der riesigen Anlage des Inselspitals. Nach der Blutabnahme auf der ambulanten Onkologie ging es mit dem Bus zurück ins Hochhaus vom Inselspital. Dort wurde mir ein PICC-Katheter, ein Zugang welcher direkt zum Herz führt, eingesetzt. Die Chemotherapie dauerte drei Tage. Ich bekam einen sehr netten Zimmernachbarn. Herr Hess war wohl Mitte siebzig und hatte einen wunderbaren Humor. So reisten meine Eltern erschöpft von den vielen Eindrücken, aber unbesorgt im Wissen, dass ich gut umgeben bin im Zimmer, nach Hause. Am Mittwoch reiste mein Vater mit dem Zug zu mir und besuchte mich. Ich war sehr müde und erschöpft von der starken Chemotherapie. Doch wir redeten viel miteinander. Mittlerweile kam auch die Angst, welche ich bei der Ersterkrankung nicht spürte, bei mir an. Am Donnerstag holte mich meine Mutter mit dem Auto ab und fuhr mich nach Hause. Die Müdigkeit und die Übelkeit waren die Tage darauf wieder omnipräsent.

Am Dienstag 15.Oktober folgte der zweite Chemotherapie-Block, welcher wieder drei Tage dauerte. Am ersten Tag reisten wieder meine Eltern mit, am Mittwoch besuchte mein Vater mich mit dem Zug und am Donnerstag holte mich meine Mutter mit dem Auto ab. Wie nach jeder Chemotherapie kam ich müde und erschöpft nach Hause, dies war jedoch «normal». Oft war ich auf die Hilfe meiner Familie angewiesen. Aufgestanden bin ich selten, meist nur um auf die Toilette zu gehen oder etwas zu essen. Für alles andere klingelte ich mit meiner kleinen Glocke, die sie mir gaben, für den Fall, dass ich sie brauchte. In den kommenden Tagen war es schwierig miteinander zu reden. Alle Geräusche und jede Wahrnehmung waren sehr anstrengend für mich. Jede Bewegung kostete mich viel Energie und jeder noch so kleine Happen brauchte viel Mühe und Geduld. Mein Zustand verbesserte sich jedoch nach wenigen Tagen wieder. Nun war es Zeit, mich auf die Hochdosis-Chemotherapie vorzubereiten. Das hieß vor allem, dass ich täglich zwei Spritzen Filgrastim brauchte. Auch meine Geschwister, zumindest diejenigen die sich trauten, durften es versuchen und mir die Spritze geben. Die große Überraschung war dann beim erneuten PET CT. Die Bilder erstaunten alle. Der Professor meinte nur: «Da gsehd mer, dass mer kei Zuckerwasser verwendet!» Die Bilder zeigten, wie  im Vergleich zu sehen, kein aktives Tumorgewebe mehr. Um aber ganz ausschließen zu können, dass der Tumor in einer winzig kleinen Zelle überlebt hat, machte man trotzdem mit der angedachten Therapie weiter.

Filgrastim & Stammzellen
Filgrastim ist ein Stammzellendoping. Dabei werden Stammzellen, welche sich im Knochenmark befinden extrem vermehrt und ins Blut ausgeschwemmt. Stammzellen enthalten Erbinformationen und kommen von Natur aus nur in extremen Notfällen zum Einsatz.

Apherese

Ein Prozess bei dem Blut entnommen, zentrifugiert und zurückgegeben wird. Beim Zentrifugieren gewinnt man die benötigten Stammzellen.

Am 28.Oktober war es dann soweit. Wir fuhren nach Bern ins Inselspital. Im Apherese Zentrum war alles für mich vorbereitet. Geplante Dauer war 6 – 8 Stunden, eventuell sogar mehrere Tage. Das Ziel waren 6 Millionen Stammzellen. Davon wollte man drei Millionen später an meinem Tiefpunkt zurückgeben und drei Millionen für einen weiteren Notfall, sprich eine weitere Krebserkrankung aufbewahren. Doch zum Überraschen der Pfleger auf der Abteilung, hatte ich schon nach 95 Minuten, 36 Millionen Stammzellen gesammelt. «Das isch en neue Rekord!», sagte die Pflegerin lachend. Mit einem großen Grinsen im Gesicht kam ich dann nachhause.

Nun war Montag 04.November. Ein wenig angespannt fuhren meine Eltern und ich wieder nach Bern. Dieses Mal mit dem Zug. Der dreiwöchige, happige Chemotherapie-Block begann. Vor Ort wurde nun der Ablauf erklärt. Am ersten Tag wurden noch viele wichtige Untersuche gemacht. Damit wollte man sicherstellen, dass mein Körper genug fit für die bevorstehende Therapie war. Am zweiten Tag bekam ich ein Antikörper-Medikament, welches zu einer Studie gehörte, an welcher ich teilnahm. Nun startete meine Hochdosis-Chemotherapie.

Hochdosis-Chemo
Bei einer Hochdosis bekommt der Körper, einfach gesagt, ein Reset. Dabei werden leider nicht nur die «bösen» Zellen, sondern auch gute getötet. Nach der Injektion werden die Tage heruntergezählt. Am Tag 0 erreicht man den Tiefpunkt, an welchem man die Stammzellen zurückbekommt. Bis sich dann der Körper wieder regeneriert kommen viele Nebenwirkungen dazu. Fieber, Appetitlosigkeit, Energielosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, tagelanger Durchfall und natürlich Haarausfall sind üblich.

Sechs Tage nach meinem Eintritt besuchte mich meine ganz Familie im Inselspital. Sie hatten auch Lotta, unseren Hund dabei. Da Lotta natürlich nicht mit reindurfte, holten sie mich mit dem Rollstuhl nach draußen. Ich war ein wenig enttäuscht, dass sich Lotta nicht mehr über das Wiedersehen mit mir freute. Diese wiederum verstand wohl nicht wirklich, weshalb ich ihr nicht entgegensprang, sondern in einem komischen, rollenden Stuhl saß. Nach meiner Familie bekam ich Besuch von meinen beiden Cousins und einem Kollegen. Wir  lachten viel und danach fiel ich todmüde ins Bett, weil es mich so sehr angestrengt hatte. Dafür hatte ich seit langem wieder mal richtig gut und lange geschlafen. Bei Tag – 2 hatte ich einen sehr schlechten Tag. Mein Vater und mein Götti waren bei mir und ich sagte: «Ech mag nömme, alles tued weh. Jede Tag wird’s no schlimmer und ech bi no ned am Tüüfpunkt!». Es brauchte einige gute Worte von meinem Vater und so ging es dann einigermaßen. Einen Tag später wurde mir ein Hals-Katheter eingelegt. Sie erklärten mir, dass die Kapazität für Infusionen über diesen grösser sei.

Am Mittwoch 13.November war dann der Tag 0. An diesem Tag war nun das komplette Blutbild zerstört, das Immunsystem auf null gefahren und das Knochenmark abgestorben und nicht mehr funktionstüchtig. Um 13.00 Uhr kam der Arzt mit einer Pflegefachfrau rein. Er erklärte uns alles genau. Nach einer kurzen Kontrolle bekam ich meine Stammzellen zurück. Kurz danach roch das ganze Zimmer nach Tomatensauce. Dies komme vom Frostmittel, mit welchem die Stammzellen eingefroren waren, erklärte der Arzt. Meine Eltern, die jeden Tag abwechselnd bei mir in Bern waren, waren an diesem Tag beide angereist. Sie fanden, dass dies der wichtigste Termin sei. Schließlich wurden mir meine Lebensretter zurückgegeben. Ohne die Stammzellen würde man in wenigen Wochen sterben, weil der Körper sich nicht erholen könnte. Danach folgte die sogenannte Aplasie, die Phase in der man zwischen Leben und Tod steht.

Aplasie
Die Phase in welcher die Leukozyten-Werte zwischen null und eins sind. Bei einem gesunden Menschen liegt der Wert zwischen 4,4 und 13,5.

Meine kleine Schwester Salome besuchte mich oft mit dem Zug, meistens nicht besonders lange, denn ich schlief viel. Aber ich genoss die Stunden mit ihr sehr. Einmal wünschte ich mir McDonald`s Essen, welches sie mir vom Bahnhof in Bern mitbrachte. Hatte ich doch langsam das Essen im Spital satt. Sowieso brachten alle aus meiner Familie immer Essen mit. Abgemacht war, dass sie sich melden, wenn sie in Bern angekommen sind, um mich zu fragen, ob und was ich denn gerne Essen würde. Und dann ging für sie die Suche nach McDonalds, Thai, Döner, usw. los. Sie waren immer froh, wenn ich überhaupt was gegessen habe. Die Therapie war unglaublich anstrengend und egal was ich tat, es brauchte enorm viel Energie. Mein Zustand verschlechterte sich ständig. Nach einer gewissen Zeit wurde mir ständig schwarz vor Augen, wenn ich nur wenige Meter zur Toilette oder zum Kleiderschrank laufen musste. Der Körper war am Anschlag und alles kostete mich viel Kraft.

Weitere Tage vergingen und ich hoffte immer wieder, keine weiteren Komplikationen zu haben. Zwischendrin hatte ich immer wieder Besuch. Nicht viele Leute bekamen das OK von mir, mich besuchen zu dürfen. Jedes Gespräch machte mich sehr müde und so wollte ich mir meine Energie fürs rasche Gesundwerden aufsparen. Ein guter Freund von mir, Nicolas, ließ es sich aber nicht nehmen, mich in Bern zu besuchen. Er düste mit mir, da ich keine Kraft zum Laufen hatte, mit dem Rollstuhl einmal ums Inselspital. Die Gespräche mit ihm und die frische Luft taten gut.

Auch auf der Station O Mitte hatte ich es gut mit meinen Pflegern, die mir meine vielen Fragen so geduldig beantworteten und mit mir mitfieberten, bald wieder nach Hause gehen zu dürfen. Es ging wieder aufwärts. Tag für Tag freute ich mich auf die Ergebnisse und schätzte ungefähr ein, wann ich endlich mit meinen Leukozytenwerte über die nötige Norm von 1,0 steigen würde. Denn dann würde es meist nur noch zwei Tage dauern, bis man nach Hause gehen dürfe.

Nach langen 4 Wochen in Bern überschritt ich die 1,0 Grenze. Ich freute mich unglaublich. Am Montag 25. November wurde ich endlich entlassen. Meine Schwester Rahel und meine Mutter holten mich in Bern mit dem Auto ab. Zuvor genossen sie den «Zibelemärit» und ich fragte noch, ob ich nicht auch noch kurz hinkönne. Einen Scherzkeks nannten sie mich. Meist reichte meine Kraft nämlich nur für eine kurze Runde, aber bestimmt nicht für den weitläufigen Markt und unter so viele Menschen mit dem schwachen Immunsystem wäre eine völlig absurde Idee. «Jetzt fangt en neue Abschnitt vom Kampf aa», so sagte Herr Dr. Pabst beim Austritt, «de Kampf wieder zrugg i Alltag». Bestimmt drei Monate soll es dauern, bis ich wieder in einem akzeptablen Zustand sei, hieß es. Doch ich gab mein Bestes. So lange nicht mich selber sein zu können, würde mir nicht guttun.

Antikörper-Therapie
Eine leicht dosierte Chemotherapie mit Antikörpern, welche Rezeptoren der Tumor-Oberflächen erkennt, daran andockt und einen Selbstzerstörungs-mechanismus auslöst.

Anfang des neuen Jahres entschied ich mich, bald wieder ein wenig arbeiten zu gehen. So telefonierte ich mit meinem Küchenchef Herr Nickel, welcher mir die Möglichkeit gab, selbst zu entscheiden, was ich kann und brauche. Er sorgte sich gut um mich und meine Gesundheit und so einigten wir uns, dass ich ab Mitte Januar wieder mit 30% Arbeit anfangen durfte. Diese Abwechslung tat mir gut. Nach so langer Zeit, mal nicht nur rumliegen und warten, bis die langen Tage vergingen, machte mich glücklich. Kurz darauf begann meine Antikörper-therapie. Frau Dr. Schmid hatte sich bemüht, dass ich sie bekomme, da sie unglaublich teuer ist und nur wenige ausgewählte Personen sie bekommen. Diese musste ich von diesem Tag an 16-mal alle drei Wochen machen. Wie auch eine Chemotherapie macht diese Therapie ein wenig müde und sorgt für Übelkeit, doch viel weniger intensiv, so dass ich meist nicht viel davon spüre. Wenn alles nach Plan läuft, ist diese Therapie im Dezember 2020 beendet.

«Leben heißt nicht zu warten, bis der Sturm vorüberzieht, sondern lernen, im Regen zu tanzen.»